Gespräch mit Annemarie Schiel, Gründungs- und Ehrenmitglied der Sektion Karpaten des Deutschen Alpenvereins
Im Alter von 6 ½ Jahren durfte sie den ersten 2000er ersteigen. Das war von Busteni aus, der Jepii. Die 7 Geschwister durften immer in dem Jahr, in dem sie 7 wurden, zum ersten Mal auf den Jepii gehen. Dort haben sie die Gämsen beobachtet und sind herumgekrochen zwischen den Latschen, und das war sehr interessant. Die Alpenrosen haben geblüht, und die Karpatenalpenrosen sind die einzigen Alpenrosen, die duften. Interessanterweise haben die Karpatenalpenrosen, in Deutschland in einem Botanischen Garten aufgezogen, ihren Duft verloren. Also muss es auch irgendwie am Boden liegen.
Dies und noch viel mehr erzählte Annemarie Schiel (98) dem Vorsitzenden der Sektion Karpaten des Deutschen Alpenvereins, Hans Werner, der sie im Dezember 2022 im Siebenbürgerheim Rimsting, wo sie seit einigen Jahren lebt, besuchte.
Wie kommst Du und Deine Familie nach Busteni?
Wir stammen aus Kronstadt, und mein Großvater wollte mit seinem Bruder eine Papierfabrik gründen. Sie sind in der ganzen Umgebung herumgefahren, sogar im Winter, um ein Gewässer zu finden, welches auch bei strengem Frost nicht versiegt. Das Wasser braucht man, um die Kessel zu heizen, die die Turbinen für die Papiermaschinen antreiben. Und diese Quelle haben sie in Busteni gefunden. Also haben wir 2 Generationen lang dort gelebt.
Beim Einmarsch der Russen, 1944, hatte die Wehrmacht einen Flüchtlingszug aus Busteni zusammengestellt, und alle deutschen Bewohner konnten da mitfahren. Und so ist unsere ganze Großfamilie damals nach Deutschland gekommen. Ich jedoch war damals nicht zu Hause und blieb noch 6 Jahre allein zurück, bis ich die Ausreisegenehmigung bekam. Aber in den Bergen war ich immer unterwegs, von 6 ½ bis 91.
Du warst auch im Himalaya unterwegs, in Südamerika und auf dem Mont Blanc ….
Zweimal war ich im Himalaya. Der erste Gipfel war der Yala Peak, der andere der Annapurna.
In Südamerika war ich auch – in den Anden und Kordilleren. Ich habe insgesamt 182 Drei-Tausender, 37 Vier-Tausender und 12 Fünf-Tausender erstiegen. Höhere Gipfel hat man zu meiner Zeit nicht geführt.
Zum Mont Blanc bin ich etliche Male unterwegs gewesen und musste immer wieder umkehren, weil es Wettersturz gab. Nach einigen Jahren ist es mir doch noch gelungen, bei strahlendem Wetter den Mont Blanc zu besteigen. Damals hatten wir eine Fernsicht von über 100 km, ganz großartig.
Ich war in sämtlichen Erdteilen unterwegs. In sämtlichen Erdteilen habe ich Berge bestiegen, sogar in der Antarktis ist es mir als einzige gelungen, einen Gipfel zu ersteigen. Das war natürlich keine Bergsteigerfahrt, sondern damals, zu meiner Zeit, war das ein Wunder, wenn ein Schiff bis hin fahren konnte. Das war eine allgemeine Fahrt, und dann waren wir in einer Bucht, wo wir einen Aufenthalt von etwa einer Stunde hatten. Diese Zeit hat gerade gut gereicht, dass ich auf einen Berg hinauf – und wieder hinuntersteigen konnte. Runter bin ich nur auf den Sohlen gerutscht. Es ist schon so lange her, dass ich einen Hang hinauf gehen konnte.
Wie seid Ihr damals zurechtgekommen in den Bergen? Diese ganzen Navigationssysteme gab es ja noch nicht.
Sehr gut. In außereuropäischen Gebieten war ich mit Bergsteigergruppen unterwegs. Da hatten wir immer einen offiziellen Bergführer, meistens waren es Münchner. Die hatten Kontakte zu einheimischen Führern. Es war ja alles vorbereitet, da musste man gar nichts tun, man musste nur gehen. Jeder hatte sozusagen einen Sherpa, der einem den Seesack und das Zelt getragen hat. Wir haben in Zelten gehaust, da es ja damals dort keine Hütten gab. Es war alles sehr, sehr schön.
Hat sich aus Deiner Sicht in den letzten Jahrzehnten im Bergsteigen viel geändert, oder ist es gleichgeblieben? Gehen die Leute mehr Risiko ein oder weniger?
Das kann ich jetzt nicht mehr beurteilen, da ich doch wenig Kontakt zum jetzigen Bergsteigen habe.
Also, ich würde sagen, in unseren Gruppen war kein Risiko vorhanden, die heutigen Kletterer gehen jetzt schwierigere Routen – da ist das Risiko sicher höher.
Bist Du in den Alpen auch Skitouren gegangen?
Sehr viel, die meisten 3- und 4-Tausender habe ich im späten Frühjahr als Ski-Tour gemacht. Man ist im Eis aufgestiegen, und bis man oben am Gipfel war, ist es aufgetaut, und dann hat man wunderbaren Firn zur Abfahrt gehabt.
Also ich war insgesamt 85 Jahre in den Bergen unterwegs. Von 6 bis 91.
Dann warst Du fast jede Woche in den Bergen?
Wir hatten sie ja vor der Nase, in Busteni. Die Talsohle liegt auf 800 m, mein Elternhaus auf 900 m und die Berge des Bucegi (Butschetsch) sind knapp über 2500 m.
Da ist die Jepii-Gruppe mit der Plaia, der Große Jepii, der Caraiman und die Costila, die sehr schön sind, mit ihren steilen Westabstürzen. Zum Skifahren muss man aufs Plateau hinauf. Der Butschetsch ist nämlich kein Kettengebirge, er hat Täler.
Und habt Ihr damals schon Lawinengeräte gehabt, wie Piepser, oder seid Ihr noch ohne gegangen?
Ohne
In den Karpaten bist Du auch Skitouren gegangen?
Oft. Natürlich schon als Kind.
Hattest Du noch die alten Holzskier?
Ja, meine ersten Ski sind von einem Schreiner in Busteni gemacht worden. Und dann habe ich meistens die abgelegten Ski von meinen älteren Brüdern geerbt. Aber das waren immer gute Ski. Und dann kamen die ersten Ski mit Kanten. Erst Holzkanten. In der Mitte war eine Vertiefung im Holz, eine Rille, später dann die ersten Metallkanten und danach Plastikkanten.
Welches war der schönste Gipfel?
Das kann ich so nicht entscheiden, jeder Gipfel ist schön, wenn man das richtige Wetter hat.
Hast Du noch einen Berg auf der Liste, den Du gerne gemacht hättest?
Diese Frage kann ich auch nicht beantworten. Ich habe eigentlich ziemlich alles gemacht, was ich machen wollte.
Schöne Fotos hast Du auch immer gemacht.
Ja, ich habe schon als Kind einen Fotoapparat gehabt, also mit 10 Jahren ungefähr, und hatte eine Tante, die sehr gut fotografiert hat, die Gerda Knopf, die auch eine große Bergsteigerin war, und die hat mich alles gelehrt. Mein Vater hatte einen Vergrößerungsapparat, und da hat sie alle ihre Filme, anfangs noch Platten, selbst entwickelt. Ich war immer dabei und habe immer alles mit angesehen und mitgeholfen. Dann haben wir selbst vergrößert. Anfangs sind ja noch Papieraufnahmen gemacht worden. Und dann kamen erst die Dias. Ich wollte die Schwarz-Weiß-Fotografie nicht aufgeben, ich habe mit den Dias sehr spät begonnen.
Hast Du jetzt die Dias digitalisiert, oder nicht?
Nein. Sie befinden sich in Holz- bzw. Plastikkästen und sind alle mit Nummer und Liste versehen.
Hältst Du noch Dia-Vorträge?
Mein letzter Vortrag war im Januar 2022. Meine Augen machen nicht mehr mit. Ich kann es nicht mehr sehn, also auch nicht erklären, was auf der Wand ist, und so mach ich nichts mehr. Hier im Heim habe ich 149 Vorträge gehalten.
Früher war ich einmal im Jahr hier, um einen Vortrag zu halten, und seit ich hier wohne, halte ich jeden Monat einen Vortrag. Wenn man so viel von der Welt gesehen und festgehalten hat (es sind ja lauter Aufnahmen, die ich selbst gemacht habe), ist es ganz einfach, darüber zu sprechen. Nicht angelernt, sondern erlebt.
Hast Du Familie? Besuchen die Angehörigen Dich oft?
Ich hatte 5 Brüder, und die leben alle nicht mehr. Verheiratet war ich nicht, also gibt’s keine Nachkommen. Neffen und Nichten und ihre Kinder sind meine Familie. Im Großen und Ganzen kommen sie gelegentlich zu Besuch, außer während der Corona-Zeit.
Warst Du in den letzten Jahren noch in Busteni?
Ich war immer wieder mal dort, aber in größeren Abständen. Jetzt kann ich natürlich nicht mehr fahren.
Du hast auch ein Buch geschrieben, habe ich gelesen.
Ja, mit Ortrun Scola zusammen. Frau Scola war Bundesfrauenreferentin, und sie hatte mich gebeten, ihr zu helfen. Ich habe sie überall hinbegleitet. Ich habe ihr gesagt, dass ich ihr, soweit ich kann, sehr gerne helfe, denn ich war ja berufstätig. Es war sehr interessant. Da lernt man nämlich sehr viel dabei. Man muss nur gut zuhören.
Und um was geht es in dem Buch?
Um siebenbürgische Trachten. Frau Scola hatte sich die Erhaltung der Tracht als Hauptthema für ihr Buch gewählt, und so hat sie dann Trachtenabende organisiert, an denen Gruppen aus verschiedenen Gebieten Siebenbürgens mit ihren alten Trachten teilgenommen haben. Und das war sehr, sehr interessant.
Hast Du nie daran gedacht, Dein Leben niederzuschreiben?
Also es war so: Meine Freundinnen, die in Kronstadt geblieben waren, hatten von meinen Bergtouren und Reisen gehört. Sie baten mich, Berichte zu schreiben. Und diese Berichte habe ich ihnen geschickt, solang sie in Kronstadt waren. Diese Berichte sind meine ganzen Erinnerungen. Mehr habe ich nicht geschrieben.
Und hast Du die Berichte noch alle?
Ich habe Durchschläge (Kopien) von diesen. Von den Freundinnen lebt natürlich niemand mehr. Mein Alter erreichen nicht alle.
Ja, das heißt, Du hast alles richtig gemacht im Leben, oder?
Ich habe sehr, sehr viel Sport getrieben, Leichtathletik, Fünfkampf, viel Tennis gespielt, bei schlechtem Wetter Tischtennis. Es waren schwere Turniere, meistens mit meinen Brüdern und ihren Freunden, außerdem bin ich viel geschwommen.
Ein Ferientag in Busteni, bei gutem Wetter, hat so ausgesehen: um 9 Uhr bin ich auf die Bergwiese Palanca hinaufgegangen, dort in 1000 m Höhe befand sich unser fabrikseigener Tennisplatz. Dort habe ich dann Leichtathletik betrieben. Ich besaß alle Wurfgeräte, Kugel, Speer, Diskus und Schlagball usw. Dort oben habe ich erst eine Stunde Sport gemacht. Danach bin ich durch den Wald hinuntergelaufen, über den Bach gesprungen, über den Zaun geklettert und nach Hause gerannt, hab mich aufs Fahrrad gesetzt und bin ins Schwimmbad gefahren. Zu Mittag dann nach Hause zum Essen, und am Nachmittag haben wir uns mit den Freunden am Tennisplatz oben auf der Waldwiese wieder getroffen. Da fanden dann schwere Tennisturniere statt. Wir waren sportlich sehr aktiv.
In den letzten 4 Jahren vor meiner Ausreise war ich Speerwerferin in der Nationalmannschaft in Rumänien.
Wie kommt man überhaupt auf diese Disziplin?
Das weiß ich eigentlich selbst nicht. Wahrscheinlich durch den Fünfkampf. Aber ich hatte ja Speer und Diskus und Schlagball und Schleuderball zu Hause und konnte damit umgehen. Ich bin ja eigentlich Sportlehrerin von Beruf, war aber nicht in meinem Beruf tätig. Durch die politischen Ereignisse war es nicht möglich. Jedenfalls konnte ich gut werfen. Und das wussten auch die Sportstudentinnen. Im ersten Semester hat man in Marburg, wo ich studiert habe, das Sportabzeichen abgenommen, Schlagballwerfen hat auch dazugehört. Wir sind also dagestanden, eine Kommission, drei Helfer und wir, und jede Studentin musste Schlagball werfen, doch obwohl sie angehende Sportlehrerinnen waren, konnten alle nicht werfen. Nach wenigen Metern ist der Ball schon wieder am Boden gewesen. Die Helfer haben sich lustig gemacht. Sie haben sich nur 3 Meter vor der Abwurfstelle aufgestellt, denn sie wussten, der Ball bleibt sowieso gleich liegen. Und das hat unsere Leute geärgert. Sie sind zu mir gekommen und baten mich: „Zeig ihnen das Schlagballwerfen, lass sie laufen.“ Dann habe ich ausgeholt und geworfen, und der Ball ist geflogen und geflogen, 52,5 m weit. Die sind starr stehen geblieben, und unsere Leute haben sich gefreut.
Annemarie, was machst Du mit deinen Berichten?
Die bekommen meine Erben.
Können wir einen oder zwei in unserem Jahrbuch veröffentlichen?
Gerne. Ich bin einverstanden, wenn es Euch Spaß macht.
Ja sicher, vor allem auch für die jüngere Generation ist es doch interessant, immer wieder zu lesen, was man schon vor 50 Jahren in den Bergen gemacht, also nicht neu erfunden hat.
Ich habe anlässlich meines 90. Geburtstags einige Berichte zusammenfassen lassen und hab ein Buch daraus gemacht, das ich in der Familie verteilt habe. Ich kann Dir ein solches Buch mitgeben.
Das ist wunderbar! Ich verspreche, ich komme wieder!
Also ich freu mich immer, wenn ich von der Sektion etwas höre, und wünsche weiterhin viel Erfolg.