Über 5000 Meter hoch! Nur noch 130 Höhenmeter bis zum Gipfel des Ararats. Aber dichter Nebel, Kälte und eisiger Wind mahnen zur Umkehr. Und wir sind unendlich müde – nach den schon mühsam überwundenen 1700 hm. Was tun? Gipfelfoto ohne Gipfel und umkehren? Niemals! Oder besser doch?
Wer hätte gedacht, dass wir nach all den Planungen und Vorbereitungen zu diesem Punkt in über 5000 Meter Höhe kommen würden? Und wann werden wir unsere Entscheidung bereuen? Doch der Reihe nach …
Von der Idee zum Plan
Eines Abends im Herbst 2022 bei einem Helferessen des Skiclubs Schliersee traf ich eine gute Skitourenfreundin, mit der wir vor Jahren viele und anspruchsvolle Skitouren gemacht haben – beispielsweise auf den Kazbeg im Kaukasus. Sie fragte, ob ich nicht Lust hätte, Ostern in die Türkei mit auf Skitour zu gehen, da soll es weit im Osten auch sehr hohe Berge und guten Schnee geben. Mitgehen kam für mich zwar nicht in Frage, da ich die Gruppe um Ex-Biathletin Laura Dahlmeier nicht zu sehr bremsen wollte. Aber die Idee ließ mich nicht los. Und ich fing an zu googeln und bei meinen engeren Skitouren-Freunden von der Sektion Karpaten vorzufühlen, was sie denn von der Idee hielten.
Vor Weihnachten ist es dann soweit. Das Gesamtpaket von Firat, einem lokalen kurdischen Guide, überzeugt uns und so buchen wir die Flüge vom 21.4. bis 1.5.2023 via Istanbul bis Van und retour. Wir? Das sind Heinz Sill, Gusti Mesch, Herbert Loew, Christiane Stumber, Jürgen Müller – fünf gute Freunde aus meiner siebenbürgischen Heimatstadt Heltau, ich, sowie Pia Simonis, meine erwachsene Tochter. Zwar haben wir im Rahmen der Sektion Karpaten oder privat schon etliche Gipfel in den Alpen per Ski gemeinsam bestiegen, aber noch keine so lange „Expedition“.
Nun heißt es einigermaßen fit zu bleiben oder zu werden und das eine oder andere Warme von der Packliste noch zu beschaffen – beispielsweise einen Schlafsack für bis zu -25 Grad. Beim gelegentlichen Checken der Ararat-Temperaturen im März (bis -30 Grad und Sturm) kommen uns zwar leichte Zweifel ob der Idee. Aber die Vorfreude überwiegt.
Auftakt am Vansee
Freitag spät empfängt uns Firat am Flughafen in der sehr schön gelegenen Milionenstadt Van. Er ist sehr sympathisch und spricht sehr gut Deutsch. Am Samstag besuchen wir bei gutem Wetter per Bus und Schiff die alte armenische Kirche auf der Insel im Vansee und die Burg in Van. Da gerade das dreitägige Zuckerfest am Ende des Ramadans ist und wir uns nicht weit vom Iran befinden, sind 90 Prozent der Touristen Iraner und Iranerinnen, die es hier offensichtlich sehr genießen, viel freizügiger gekleidet sein zu dürfen als daheim. Bei lauter Musik und guter Laune genießen auch sie die Überfahrt zur Insel. Abends bei Ayran zum leckeren Essen sind wir allmählich angekommen.
Akklimatisierungs-Skitouren auf den Artos (3515 m) und Süphan (4058 m) bei Sonne und Sturm
Frühmorgens laden wir all unser Zeug in Firats Bus und es geht am Südufer des Vansees zum ersten Skitouren-Ziel, dem Mount Artos. Bei 2000 m endet der sehr holprige Schotterweg, wir packen die Skier auf den Rucksack und gehen los. Erst nach einer Stunde ist genug Schnee zum anschnallen. Wir gehen mal bei Regen, mal bei Sonne, mal bei Graupel stetig Richtung Gipfel. Der wenige Schnee kommt unserem Ersatz-Guide Ismail entgegen, da er ohne Ski unterwegs ist. Er kann weder Deutsch noch Englisch und musste kurzfristig für Firat einspringen, weil dieser sich leider am Knie verletzt hatte. Zumindest kennt Ismail den Weg rauf. Nach 1500hm erreichen wir den Gipfel. Herliches Wetter und beste Sicht auf den Vansee 2000 m tiefer. Wir verharren eine ganze Weile, ehe wir zum Skidepot gehen und in super Firn runter wedeln. Bei einem Efes Bier unten am Bus feiern wir den ersten Gipfel. Danach geht es zwei Stunden per Bus weiter im Uhrzeigersinn um den See herum bis Adilcevaz.
Tags drauf geht es gleich weiter Richtung Süphan – ein formschöner 4000er im Norden des Vansees. Im Regen gehen wir auf 2200 m los. Wieder können wir die Skier erst nach über einer Stunde anschnallen – bei Schneeregen. Unser Ersatz-Guide Ismail sucht den Weg und will uns direkt in einen Lawinenkegel schicken. Wir vertrauen mehr unseren GPS-Tracks und fangen an, an den Qualitäten des Guides zu zweifeln. Der Sturm wird immer stärker, es gibt keine Hoffnung auf Wetterbesserung in den nächsten Stunden und auch die Abfahrt ist alles andere als vielversprechend. Auf 3300 m ist Schluss. Wir fahren runter. Und hoffen auf besseres Wetter am Ararat, dem höchsten Gipfel der Türkei.
Aber erstmal geht es drei Stunden weiter nach Dogubayazit – vorbei an endlosen Steppenlandschaften über einen 2600 m hohen Pass zwischen dem Tendürek Vulkan und der ganz nahen iranischen Grenze. Ungefähr alle 50 km gibts einen Militär Checkpoint mit Passkontrolle. In Dogubayazit erwartet uns ein schönes, neues Hotel, dass wir fast exklusiv für uns haben. Firat kommt von hier, kennt fast jeden, was für unsere lokalen Aktivitäten von großem Vorteil ist.
Yoga, Kultur und heiße Quellen am Fuße des Ararts
Wir sind angekommen in unserem neuen Zuhause in Dogubayazit. Halb neun, noch vorm leckeren Frühstück, bei bestem Wetter und bester Aussicht auf den Ararat laden unsere Damen Christi und Pia zum Yoga auf unsere Terasse im sechsten, obersten Stock ein. Die Stimmung ist prächtig. Heute ist Sightseeing-Tag: Erstmal bestaunen wir den oberhalb der Stadt gelegenen mittelalterlichen persisch-osmanischen Ishak-Pasha-Palast, bummeln zum Mittags-Börek und Tee in die wahlkampfgeschmückte City und fahren dann ca eine Stunde Richtung Westen auf einem über 2000 m hohen endlos erscheinenden Plateau mit vielen noch schneebedeckten Dreitausendern am Horizont. In der Nähe von Agri gönnen wir uns ein sehr heißes Bad in einem Pool, der von einer ganz nahen schwefelhaltigen heißen Quelle gespeist wird. Erstmalig lernen wir auch unseren Basislager-Koch kennen. Aber noch sind es nicht seine Koch- sondern seine Massage- und Tanzkünste die uns beglücken.
Abends genießen wir nochmal ein leckeres Ghivetsi und packen für den Ararat. Die Vorfreude gepaart mit Respekt steigt. Was erwartet uns? Wie wird die nächste Nacht im kleinen Zelt auf 3400 m? Und die große Frage: Hält das Wetter?
Sundowner und kurdischer Tanz im Ararat Basecamp (3400m)
Nach dem inzwischen fast obligatorischen Yoga geht es mit zwei Minibussen vorbei am Militär-Checkpoint und kleinen kurdischen Dörfern Richtung Ararat-Aufstieg. Die fahrbare Schotterstraße endet auf 2200 m, wo uns bereits zehn Pferde samt Treiber erwarten. Wir laden die Sachen aus, sortieren zwischen selber tragen und von Pferd tragen und verabschieden uns von Firat, der wegen seines Knies definitiv nicht mitgehen kann. Wir bedauern es, hoffen aber auf Ismail, den Ersatz-Guide. Der Aufstieg ins Basislager ist sehr schön: Der Große Berg ist gut sichtbar und kommt immer näher, das Gepäck ist leicht, das Wetter prima. Nach ungefähr drei Stunden überholen uns die Pferde mit unserem Material, den dicken Isomatten fürs Zelt und dem Proviant. Im Basislager angekommen, beziehen wir unsere geräumigen Zweier-Zelte, checken das Material und ziehen trotz wenig Wind immer mehr Schichten an. Wir sind die einzige und in diesem Winter die letzte Gruppe hier oben. Eine Gruppe aus Berchtesgaden geht grad runter – sie meinen, es war sehr schwer, obwohl sie großes Glück mit dem Wetter hatten. Hm. Wir genießen die Aussicht, den Sundowner 2000m überm Tal und machen schöne Fotos. Nach den leckeren Spaghetti Bolognese tanzen wir mit dem Koch noch eine Runde im Küchenzelt. Guide Ismail hustet viel und ist angeschlagen, er meint aber „no problem“. Wir sind trotzdem etwas skeptisch. Halb neun ist Zapfenstreich.
Gipfeltag: guter Start mit gutem Ende. Und dazwischen?
1:40 Uhr klingelt der Wecker. Ich muss tatsächlich 3-4 Stunden geschlafen haben. Andere fast nicht. Das Adrenalin macht es wett. Nach einem kleinen Frühstück und 3-4 Tassen Tee starten wir 2:40 Uhr. Die Sterne leuchten, die Lichter im Tal tief unten auch, wie auch unsere Stirnlampen. Bilder die sich einbrennen. Es ist recht windstill und wir sind voll motiviert. Unser Ersatz-Guide geht gleich mit Steigeisen los, wir mit Harscheisen an den Skier, der Schnee ist recht gefroren. Schon bald gibt es ein paar Diskussionen im Team zwischen vorne und hinten, was das beste Tempo wäre, und zwischen uns und dem Guide, welches der beste Weg ist – Ismail kennt anscheinend nur den Sommerweg, wir haben – Gott sei Dank – den Winter-Track auf unseren Handys. Zudem ist Ismail krank und kann nicht mithalten. Wir telefonieren nachts halb vier mit Firat, dem kniekranken Guide, und entscheiden, alleine, ohne Guide weiterzugehen.
Inzwischen finden wir zu einem guten, recht gemächlichen aber für alle akzeptablem Tempo, kommen gut voran und genießen den Sonnenaufgang über dem Gipfel des Kleinen Ararats. Unvergessliche Momente! Ab circa 4400 m wird es immer nebliger, windiger und kälter. Mit dicken Daunenjacken und fetten Fäustlingen friert trotzdem keiner. Allerdings werden die Abstände, in denen jeder von uns stehenbleiben und kurz durchschnaufen muss, immer geringer. Wir werden immer müder, der Wind stärker. Die ersten denken ans Abbrechen. Die Hoffnung, dass das Wetter sich bessert, haben wir aufgegeben. Aber wir sind immer noch recht gut in der Zeit, und hoffen bald alle gemeinsam auf dem Gipfel zu stehen. Alle paar Meter checken wir den Track, da bei dem dichten Nebel in dem Gelände größere Abweichungen fatal sein können. Auf circa 4850 m lassen wir die Skier zurück, markieren den Standort und stapfen in dichtem Nebel zu Fuß langsam weiter. Auf alle Fälle müssen wir als Gruppe zusammenbleiben. Bei 5005 m stehen wir vor blankem Eis. Eigentlich kein Problem, da Steigeisen griffbereit. Aber wir sehen uns an,sehen die Frostbeulen und Erschöpfung in unseren Gesichtern und entscheiden, stopp, es reicht! Keiner widerspricht. Obwohl jedes Ausziehen des Handschuhs, die Finger sofort eiskalt werden lassen, machen wir noch ein gemeinsames „Gipfelfoto“ und kehren um.
Das Runtergehen zieht sich lange hin und auch die Skifahr-Passagen sind bei dem Bruchharsch und dem Nebel alles andere als ein Genuß. Immerhin treffen wir Ismail wieder und gelangen alle müde aber gesund ins Basislager. Nach einer längeren Tee-Pause, bauen wir die Zelte ab und trotten ins Tal runter, wo Firat mit einem wohlverdienten Bier auf uns wartet. Es sollte nicht das letzte an diesem Tag bleiben.
Apres Ararat: Arche Noah, Wellness und Kultourtour in Istanbul
Nach Ausschlafen und dem inzwischen liebgewonnenen Yoga-Termin geht es mit Firat und unserem gewohnten Ford Transit zu dem angeblichen Fundort der Arche Noah auf einen Hügel nahe dem Grenzzaum zum Iran. Danach genießen wir die Hitze, die Massage und Tee Nummer 8,9,10,… im Hamam. Beim leckeren Abendessen in unserem neuen Stammlokal kommt etwas Wehmut auf ob des bevorstehenden Abschieds aus dieser wunderschönen Gegend mit sehr herzlichen und gastfreundlichen Menschen. Zum Abschluss tanzen wir in in der Hotellobby zu deutschen, türkischen und kurdischen Schlagern. Frühmorgens fahren wir etwas müde wieder zurück nach Van und per Flieger nach Istanbul.
Ein paar Stunden später genießen wir bei eim guten roten Tropfen türkischem Wein den Sundowner auf dem Deck eines Bootes auf dem Bosphorus zwischen Europa und Asien. Am letzten Tag besuchen wir die Hagia Sophia, die Blaue Moschee, die Basilika-Zisterne, den Topkapi-Palast und den Großen Basar. Wir erfahren sehr viel von unserer kundigen Reiseleiterin über die Kultur und die sehr bewegte Geschichte dieser Stadt. Den Abend lassen wir bei leckerem Essen und ausklingen und verabschieden uns schweren Herzens von Firat. Schöner Abschluss!
Fazit
Aufgrund der Fülle an unterschiedlichsten Akitvitäten, fremder Landschaften und Kulturen kommen uns die neun Tage viel länger vor. Für unsere Entscheidung, kurz vorm Gipfel abzubrechen, erhalten wir viel Anerkennung von befreundeten erfahrenen Bergsteigern. Aber natürlich diskutieren wir immer mal wieder über den leider doch nur fast erreichten Gipfel. Irgendwann in den nächsten Jahren wollen wir ihn nachholen, vielleicht kombiniert mit Skitouren im Taurus, Kackar-Gebirge oder Kaukasus.
Insgesamt sind wir jedoch von A wie Ararat bis Y wie Yoga dankbar und im Reinen mit uns – haben wir doch neben unzähligen Alpen-Gipfelfotos mit strahlendem Himmel nun auch eines der anderen Art. Und zusammen mit den unvergeßlichen gemeinsamen Erlebnissen drumherum hat dieser „5005er Gipfel“ noch mehr „weisst du noch damals“- Potential wie als sonniger perfekter Gipfel.
Danke allen Beteiligten, die diese Reise ermöglicht haben: denen, die dabei sein konnten, und denen, die daheim bleiben mussten.