
… Das Rätikon macht’s möglich!
Das Rätikon, ein atemberaubendes Grenzgebirge zwischen Österreich, der Schweiz und Liechtenstein, bietet eine einzigartige Wandererfahrung. Hier trifft man auf ein faszinierendes Blumenparadies zu Füßen majestätischer Kalkmauern, wo nahezu alle Bergblumen und Gräser der Alpen gedeihen. Kaum zu glauben, aber es ist wahr!
Tag 1: Mit Vorfreude und Sonnenschein im Gepäck starten wir unsere Wanderwoche in Latschau. Unsere Gruppe, bestehend aus 5 Erwachsenen und 7 Jugendlichen im Alter von 13 bis 70 Jahren, ist bereits ein eingespieltes Team, da wir in fast gleicher Konstellation auch die Jahre zuvor unterwegs waren. Die Altersmischung empfinden wir als Bereicherung, auch wenn es manchmal herausfordernd ist alle Interessen zu vereinen. Der Aufstieg durch das malerische Gauertal zur Lindauer Hütte eröffnet uns erste Blicke auf die Drusenfluhkette mit den markanten Gipfeln der Drei Türme, Drusenfluh und Sulzfluh.
Die moderne, in hellem Holz gehaltene Lindauer Hütte empfängt uns mit kühlen Getränken auf der Sonnenterrasse, von der wir die Felswände der Drei Türme, die quasi direkt über der Hütte thronen, bestaunen. Am späten Nachmittag nehmen einige von uns an einer kostenlosen Führung durch den Botanischen Alpengarten teil, der direkt an der Hütte angelegt wurde. Dort bekommen wir spannende Informationen über die einzigartige Flora und Geologie des Rätikons.


Tag 2: Nach einem herzhaften Frühstück mit frisch gebackenem Brot und regionalen Produkten brechen wir bei strahlendem Sonnenschein auf zu unserem heutigen Ziel: die Totalphütte auf 2385 m. Wir haben etwa 11 Km Strecke, 1150 Hm im Aufstieg und 500 Hm im Abstieg vor uns. Der Weg führt uns durch das Öfatal entlang der imposanten Drusenfluhkette und den Kirchlispitzen.
Hier offenbart sich der faszinierende geologische Kontrast des Rätikons: Auf der einen Seite erheben sich die hellen Felstürme aus Kalkstein, auf der anderen Seite erstreckt sich ein weniger schroffer Gebirgsrücken mit sattgrünen, blumenübersäten Wiesen. Die botanische Vielfalt ist überwältigend. Trollblumen, Stiefmütterchen, Enziane, Sonnenröschen, Alpenaster und schwarzes Kohlröschen drängen sich auf engstem Raum. Besonders beeindruckend sind die Hänge voller Arnika – ein Anblick, den wir so noch nie gesehen haben. Da drängt sich doch die Frage auf, wieso das so ist?


Das Geheimnis für diese beeindruckende botanische Vielfalt steckt im Untergrund.
Hier im Rätikon wird Erdgeschichte greifbar, denn durch das Rätikon verläuft die tektonische Grenze zwischen der Eurasischen und der Afrikanischen Platte. Indem sich diese beiden Erdplatten im Laufe von Jahrmillionen aufeinander zubewegten und die Afrikanische Platte sich unter die Eurasische Platte schob, entstanden vor etwa 100 Millionen Jahren die Alpen. Und zwischen diesen beiden Erdplatten befand sich ein Ozean, der Penninische Ozean.
Die Felsgipfel der Drusenfluhkette bestehen aus Ablagerungen und Riffkalken des ehemaligen Ozeans. In unmittelbarer Nähe finden wir aber auch vulkanisches Gestein (Serpentinit), das aus Magma entstand, welches an den Plattenrändern aufstieg. Diese geologische Vielfalt auf diesem kleinen Areal schafft ideale Nährstoffbedingungen für diese außergewöhnliche Pflanzenvielfalt.

Unser Hüttentrekking führt uns somit über die Gesteine zweier Kontinente: Europa und Afrika, über Meeresboden und sogar vulkanisches Gestein. Diese Vorstellung innerhalb weniger Kilometer, ja sogar am gleichen Tag, auf zwei Kontinenten zu wandern, finden wir spannend!
Und so gehen wir wachen Auges durch die Landschaft, halten immer wieder inne und versuchen herauszufinden, auf welchem Kontinent wir gerade gehen.
Nach etwa 4 Stunden erreichen wir den Lüner See. Der See liegt sehr schön eingebettet in die umliegenden Berggipfel. Im Hintergrund können wir die Schesaplana ausmachen, unser morgiges Ziel. Wir beschließen kurz vor dem Aufstieg zur Totalphütte, auf einer Wiese am Ufer ein Picknick zu machen. Unsere Jugendlichen lassen sich die Gelegenheit nicht nehmen, in den Lüner See zu springen. Die Erfrischung kommt bei der stechenden Sonne sehr gelegen. Nach dem Bad und der Stärkung geht es zum Endspurt – noch etwas 1 -1,5 h Bergauf zur Totalphütte.


Tag 3: Heute wollen wir die Schesaplana (2965 m) besteigen, um von dort über den ausgesetzten Schweizer Steig direkt zur Schesaplanahütte abzusteigen. Unsere Pläne werden durch die nahende Kaltfront mit ihren gefährlichen Kaltfront-Gewittern durchkreuzt.
In der Früh ist der Himmel über uns noch Blau, von der Kaltfront ist noch nichts zu sehen. Dementsprechend schwer fällt die Entscheidung. Sollen wir die Schesaplana, den höchsten Gipfel des Rätikon, auslassen? Nach sorgfältiger Abwägung entscheiden wir uns für einen frühen Start mit leichtem Gepäck. Die Jugendlichen sind hochmotiviert, ihren ersten „Fast-3000er“ zu besteigen. Der Aufstieg verläuft zügig, und wir erreichen den Gipfel gegen 9:30 Uhr. Die Freude und der Stolz der Jugendlichen lassen ihre Gesichter erstrahlen. Der Name „Schesaplana“ setzt sich aus den Worten „Saxa“ (schroff) und „plana“ (eben) zusammen – eine treffende Beschreibung für den schroffen, aber oben abgeflachten Berg. Der Ausblick vom Gipfel ist gigantisch, doch schwarze Wolken und Donnergrollen mahnen zum schnellen Abstieg. Auf dem Rückweg werden wir vom Regen eingeholt, bleiben aber vom Gewitter verschont und erreichen sicher die Totalphütte.



Da kein Regen Ende in Sicht ist, setzen wir gegen Mittag unseren Weg zur Schesaplanahütte fort. Doch just, als wir den etwas ausgesetzten Abstieg vom Gamsluggen auf die Schweizer Seite antreten, bessert sich das Wetter. Die Wolkendecke bekommt Risse, es wird wärmer und unsere Stimmung hebt sich schlagartig. Wir genießen den malerischen Rätikon-Höhenweg, der uns in leichtem Auf und Ab zur urigen Schesaplanahütte führt. Dort werden wir von der Schweizer Gelassenheit empfangen und dürfen zu unserer Überraschung am Schweizer Nationalfeiertag teilhaben. Die Tische sind mit Bergblumen und Schweizer Fahnen geschmückt. Ein festliches Abendessen, Lagerfeuer und der Anblick zahlreicher Feuer auf den umliegenden Bergen, ähnlich unseren Sonnwendfeuern, machen diesen ereignisreichen Tag perfekt. Wir alle fallen müde und zufrieden in unsere Betten.
Tag 4: Die Kaltfront hat die Atmosphäre deutlich abgekühlt. Es ist zumindest wieder trocken und das ist gut für uns, denn heute haben wir bis zur Carschinahütte in 7 – 8 h Gehzeit etwa 16 Km Strecke zu bewältigen. Landschaftlich ist diese Etappe ein Traum. Besonders beeindruckend sind die Moorwiesen mit einem Meer an Knabenkräutern und die blühenden Hänge voller Arnika. Die Pflanzenpracht auf der Schweizer Seite des Rätikon steht der österreichischen in nichts nach.
Die Schweizer Hütten lassen sich nicht lumpen, auch auf der Carschinahütte gibt es mit kostenlosem Nachschlag reichlich zu essen, was bei unseren hungrigen Jugendlichen sehr gut ankommt.


Tag 5: Auf dem Weg von der Schweizer Carschinahütte (2236 m) zur Tilisunahütte in Österreich, besteigen wir unseren zweiten Gipfel, die 2817 m hohe Sulzfluh. Bei ungemütlichem Wetter mit tiefhängenden Wolken und Regenschauern erreichen wir den Gipfel, wo wir leider keine Aussicht genießen können. Die Jugendlichen scharen sich am Gipfelkreuz zusammen wie Schafe, um sich warm zu halten- ein urkomischer Anblick. Der Abstieg führt uns zunächst über einen steinigen breiten Rücken, dessen Anblick einer Mondlandschaft gleicht, da das Gestein komplett in Schutt zerfallen ist. Bei der eingeschränkten Sicht müssen wir uns an den Steinmännchen orientieren, um nicht vom Weg abzukommen. Kurz darauf führt der Weg über ein Dolinenfeld hinab zu einem Hochplateau aus festem Kalkstein. Nun befinden wir uns im Karstgebiet des Sulzfluhstockes in dessen „Bauch“ sich mehrere Höhlen befinden- durch eine davon verläuft sogar ein Klettersteig.


Ein besonderes Highlight erwartet uns am Ende des Karstplateaus: Eine scharfe, gut sichtbare Grenze, an der wir mit einem einzigen Schritt vom kargen Karstplateau (ehemaliger Meeresboden) auf den vulkanischen Boden des Schwarzhorns mit seinen grünen Wiesen gelangen – ein eindrucksvolles Zeugnis der geologischen Geschichte des Rätikons.
Nach etwa 30 Minuten erreichen wir dann unser letztes Quartier- die Tilisunahütte.


6. Tag: Mit etwas Wehmut treten wir heute von der Tilisunahütte den Abstieg ins Gauertal nach Latschau an. Die Jugendlichen und ich besteigen noch die Tschaggunser Mittagspitze (2168 m), die aus Kalkriffen besteht, die dem flachen Ozean vor der afrikanischen Platte entstammen, während die Erwachsenen den Weg unterhalb der Mittagsspitze nehmen. Die Mittagspitze hat es in sich, denn der Pfad endet vor dem Gipfelanstieg. Die letzten Minuten verlangen uns Mut und Konzentration ab, denn der Gipfel muss in unmarkierten und vor allem ungesichertem Felsgelände erklettert werden. Die Kletterei ist gut machbar, dennoch nicht ungefährlich. Wir sind stolz oben anzukommen, aber auch sehr erleichtert, als wir wieder im Sattel sind. Für die Jugendlichen war diese Kletterei das Highlight des Tages. Die Erwachsenen treffen wir an der Alpilaalpe wieder. Nach einer gebührenden Einkehr begeben wir uns auf die letzte Stunde unserer Tour.
Bild 17: Tschaggunser Mittagsspitze
Fazit: Anfangs hatten wir Bedenken, dass die Tour mit 6 Tagen zu langwierig wird. Jedoch empfanden wir alle, zu unserer eigenen Überraschung, die Woche als sehr kurzweilig. Klar liegt das auch an den Teilnehmern. Wir kennen uns gut und können aufeinander gut eingehen.
Es liegt aber tatsächlich hauptsächlich am Rätikon selbst. Das Rätikon hat uns mit seiner abwechslungsreichen Landschaft, der faszinierenden Blumenpracht und geologischen Vielfalt in besonderem Maße berührt und beeindruckt. Die Vorstellung, innerhalb weniger Tage auf zwei Kontinenten zu wandern, über ehemaligen Meeresboden zu laufen und vulkanisches Gestein zu berühren, machte diese Tour zu etwas ganz Besonderem.
Durch die ständig wechselnden Landschaftsbilder und die vielen Eindrücke, konnte keine Langeweile aufkommen. Das Rätikon ist und bleibt ein außergewöhnliches Wanderziel!
Fotos: Brigitte Jöhl